Experimentierfeld für den Mittelstand Das „Industrie 4.0 Collaboration Lab“
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Mittelständler zögern, in Technologien zu investieren, deren Mehrwert sich nicht auf den ersten Blick erschließt. Hier setzt das „Industrie 4.0 Collaboration Lab“ an, das am Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI) gemeinsam mit der Bechtle und Solidline AG, dem Forschungszentrum Informatik (FZI) am KIT sowie einer Reihe weiterer Industriepartner aus der Taufe gehoben wurde. Professor Jivka Ovtcharova hat als Institutsleiterin des IMI bereits 2008 ein auf Digitalisierung ausgerichtetes „Lifecycle Engineering Solutions Center“ (LESC) aufgebaut.
Die dort entwickelte Hard- und Software-Umgebung konnte jetzt zu einem 3D-Experimentierfeld ausgebaut werden, in dem mittelständische Unternehmer durch die Methoden und Werkzeuge der Virtual und Augmented Reality ganz unmittelbar die Optionen und Chancen von Industrie 4.0 kennenlernen können. Im Rahmen des Wettbewerbs „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ wurde das Industrie 4.0 Collaboration als einer der „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ ausgewählt. Die prämierte Lösung der Initiatoren Michael Grethler und Prof. Jivka Ovtcharova adressiert die vernetzte Automatisierung mit dem Ziel der optimalen Auftragsfertigung auf Basis von Echtzeitdaten. Für die Auszeichnung waren neben dem Innovationsgrad durch Digitalisierung und intelligente Vernetzung der Lösung vor allem Marktrelevanz und Umsetzbarkeit entscheidend.
Seit die deutsche Kanzlerin 2013 die Initiative „Plattform Industrie 4.0“ gestartet hat, sind in Deutschland eine Reihe von Testumgebungen der vierten industriellen Revolution entstanden. Was ist das Besondere am „Collaboration Lab“?
Jivka Ovtcharova: Es bündelt das Know-How von führenden Entwicklern, Anbietern und Anwendern von Visualisierungs- und Simulationstechnologien in einem Kompetenznetzwerk mit einem angeschlossenen Demo- und Dienstleistungscenter. Mitglieder dieses Netzwerkes sind Unternehmen, Hochschulen, Forschungsinstitutionen und Einrichtungen der Aus- und Weiterbildung, die diese Technologien anbieten oder in ihre Prozesse integriert haben. „Bei Industrie 4.0 geht es um sehr viel mehr als nur um Produktionsprozesse. Das gesamte Wirtschaftssystem wird auf digitalen Geschäftsmodellen und werteschaffenden Interaktionen zwischen Anbietern und Kunden aufbauen. Dabei sind vor allem die Menschen betroffen. Deshalb steht der Mensch im Zentrum unseres ganzheitlichen Ansatzes. Hier bietet die virtuelle Realität enorme Vorteile. Bei uns können die Mitarbeiter der mittelständischen Unternehmen die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Transformation intuitiv und praxisnah erleben. Mithilfe von maßgeschneiderten Simulations-Szenarien und mit Datensätzen aus der eigenen Praxis können sie auf pragmatische Weise die Antwort auf die Frage bekommen: Wie generiert man durch Industrie 4.0 Lösungen messbare Mehrwerte für das Geschäft? Mit dem Industrie 4.0 Collaboration Lab stellen wir gezieltes Lösungs-Know-how zur Verfügung. Die enge Verbindung der digitalen mit der physischen Welt unter dem Stichwort ,Cyber-Physical Systems (CPS)‘ wird überall zum Entstehen sogenannter eingebetteter Intelligenz führen. Für die Unternehmen bedeutet dies Dezentralisierung. Flache Organisations- und Produktionsstrukturen werden es erlauben, vor Ort rascher Entscheidungen zu treffen und sich der Fluktuation der Märkte weitgehend automatisch anzupassen.
Michael Grethler: „Die Fabrik der Zukunft bietet eine ungeahnte Flexibilität bei optimalem Ressourceneinsatz. Industrie 4.0 ist eine Chance für Deutschland, als Produktionsstandort, Fabrikausrüster und Anbieter von Business-IT noch stärker zu werden. Die Besonderheit liegt in der Zusammenarbeit von Unternehmen mit der vordersten Frontlinie der Forschung. Die Technologieregion Karlsruhe stellt ein kleines Silicon Valley dar. Es gibt hier viele engagierte Unternehmen im IKT-Bereich. Sie haben sich zu einer Initiative zusammengeschlossen. Damit ist es gelungen, die Mittelständler für das Thema zu sensibilisieren. Das ist sehr wichtig, denn es gibt kein fixfertiges Industrie-4.0-Paket, das man irgendwo von der Stange kaufen könnte.“
Was sind die wichtigsten Herausforderungen, die mit Industrie 4.0 auf die mittelständischen Unternehmen zukommen?
Jivka Ovtcharova: „Durch die Vernetzung der Maschinen und ihre Nachrüstung mit Sensoren entstehen große Datenströme. Damit müssen die Mitarbeiter umgehen können. Sie müssen lernen, sie zu erfassen und auszuwerten, damit die darin enthaltenen Informationen für ein agiles Prozessmanagement genutzt werden können. Das ist keine Aufgabe, die man an einen externen IT-Dienstleister delegieren kann. Bei uns können Mittelständler die verschiedenen Szenarien in Simulationen durchspielen. Woher kommen die Daten, wie werden sie erfasst, wie müssen sie aufbereitet und analysiert werden? Das geschieht anhand der realen Daten des jeweiligen Unternehmens, weil sich Mittelständler meist durch sehr individuelle Geschäftsmodelle auszeichnen. So kann der konkrete Mehrwert eines Investment in die 4.0-Technologien demonstriert werden. Zugleich können wir zeigen, dass sich der Benefit auch kurzfristig realisieren lässt. Das ist wichtig, weil die Planungsintervalle des Mittelstands kürzer sind. Eine wichtige Zielgruppe sind auch die Ingenieure von morgen. Für die Lehre hat das Lab große Vorteile. Unsere Studierenden beteiligen sich direkt an den Industrie-Studies und erarbeiten während ihres Studiums praxisnahe 4.0-Problemlösungen.“
Michael Grethler: „Neben der Bewältigung der technologischen Voraussetzungen stellt die Veränderung der Infrastruktur eine wichtige Herausforderung dar. Damit ist die stetige Bereitstellung und Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur gemeint: Netzkommunikation, Breitband-Vernetzung, Cloud Computing, Data Analytics, Cyber Security, sichere Endgeräte sowie Machine-to-Machine Lösungen. Weitere Herausforderungen sind die vertikale und horizontale Integration und die Vernetzung der Produktion in Echtzeit, das Engineering und das damit verbundene digitale Product-Life-Cycle-Management (PLM) über den gesamten Wertschöpfungsprozess. Hier wird Cloud Computing das alte Client-Server Modell ersetzen, was ebenfalls einen Mentalitätswandel voraussetzt. Schließlich kommt der Bereich der automatisierten Steuerung von Produktionsprozessen hinzu. Das sind die zentralen Themen, mit denen sich ein mittelständisches Unternehmen beschäftigen muss, wenn es heute seine Strategie im Rahmen von Industrie 4.0 entwickelt. Das Ziel dabei ist immer eine ressourcenschonende Herstellung individuell konfigurierter Produkte und die Entwicklung innovativer Dienstleistungen. Industrie 4.0 sehen wir in erster Linie als Lean Manufacturing. Ein Optimum ist erreicht, wenn man nichts mehr weglassen kann. Nach Big Data kommt Lean Data. Die neue Technologie darf nicht zum Selbstzweck eingesetzt werden.“
Haben Sie eine Erklärung für die Zurückhaltung der Mittelständler?
Michael Grethler: „Bisher wurde bei den kleinen und mittleren Unternehmen die Schlüsselrolle der Informationstechnologien noch nicht wirklich erkannt. IT-Instrumente wurden ad hoc nach den jeweiligen Bedürfnissen einzelner Abteilungen eingeführt. In der Regel fehlt ein Gesamtkonzept. CAD-Programme sind ein Beispiel. Durch sie wurden die Ideen der Entwicklungsabteilungen bereits in dreidimensionale Modelle überführt. Der nächste Schritt wäre es jetzt, diese digitalen Informationen für die gesamte Prozesskette zu nutzen. Wir zeigen im Lab, wie das gehen kann. Wir präsentieren den Mittelständlern integrative Modelle der Datenverarbeitung in Echtzeit. Wir demonstrieren die Vorteile, wenn von der Entwurfsidee bis hin zur Fertigung optimiert gearbeitet werden kann, sodass jeder an der Wertschöpfungskette Beteiligte zu jedem Zeitpunkt genau die Informationen bekommt, die er für eine im Hinblick auf den Gesamtprozess optimale Entscheidung braucht. Ein Konstrukteur weiß dann sofort, wann er seinen Entwurf umsetzen kann, ob alle notwendigen Werkzeuge dafür vorhanden sind, oder zusätzliche Anschaffungen notwendig sind, wie es mit der gegenwärtigen Auslastung der Maschinen steht. Um diese Vision zu verwirklichen, werden im Rahmen des Labs Integrationslösungen für ERP-Systeme, Enterprise-Resource-Planning-Systeme, CAD-Systeme, Computer-Aided Design Systeme, und MES-Systeme, Manufacturing Execution Systeme, entwickelt. Also Integration in genau jenen Bereichen, die für die vernetzte Automatisierung entscheidend sind. Mittelständische Unternehmen verfügen hier in der Regel nur über Insellösungen, was die Ausschöpfung des Potentials erschwert. Wir beweisen, dass man heterogene Komponenten mit dem kleinstmöglichen Aufwand verbinden kann. So entstehen Modelllösungen, die dann auch ohne kostspielige Unternehmensberatung umsetzbar sind. Das weitaus größte Hindernis aber ist die notwendige Qualifizierung und Weiterbildung der Mitarbeiter. Hier muss das IT-Knowhow verbessert und eine stärkere Einbindung in Innovationsprozesse ermöglicht werden. Die Arbeit verändert sich. Die standortgebundene Fabrikarbeit verwandelt sich zunehmend in mobile, virtuelle Arbeit, die durch intelligente Assistenzsysteme unterstützt werden muss. Oft fehlt es dafür noch an den Handlungsspielräumen, die durch dezentrale Führungsmodelle eigenverantwortliche Entscheidungen zulassen. Die Grenzen werden weniger durch den Stand der Technik gezogen als durch unsere Fähigkeiten, diese Technik in einer sinnvollen Art und Weise zu kombinieren und einzusetzen.“
Von amerikanischer Seite gibt es den Vorwurf gegenüber dem deutschen Industrie 4.0-Konzept, dass es sich zu sehr auf den Produktionsprozess fokussiere und die Chancen der Produktinnovation aus den Augen verliere. Ist diese Kritik berechtigt?
Jivka Ovtcharova: „Wenn die mittelständischen Unternehmen die Möglichkeiten der Produktinnovation durch Industrie 4.0 nicht ausschöpfen, kann es sein, dass Dienstleister die Früchte ihrer Investitionen ernten. Die Produktion ist eben nur ein Glied in einer langen Kette. Die Portfolio-Planung und die Erfassung der Anforderungen beispielsweise sind bisher nur unzureichend berücksichtigt. Es gibt kein funktionierendes Informationssystem für das Anforderungsmanagement. Und auch das Feedback von den Nutzern der Produkte wird noch nicht systematisch erfasst. Dabei ändert sich hier gegenwärtig durch die Sharing-Economy ungeheuer viel. Die Nutzbarkeit und das Service Prototyping, stehen immer mehr im Vordergrund. Diesen Paradigmenwechsel wollen wir auch dem Mittelstand vermitteln. In diesem Zusammenhang spielt unser Big-Data-Analyse-Portfolio eine Rolle. Die Fülle der generierten Daten kann eben nicht nur zur Optimierung der Produktionsprozesse, sondern auch für eine schnellere Anpassung an die sich wandelnden Anforderungen der Märkte genutzt werden.“
Dr. Stefan Fuchs